Leseprobe: Der Tag, der mein Leben veränderte
Der Tag begann wie jeder andere. Es war kurz vor Mittag, als es klingelte. Wir schlugen alle Alarm, denn das bedeutete, Menschen kommen zu Besuch. Total spannend, denn wir wussten nie, was passiert. Wer von uns bekommt ein neues Zuhause? Bekommt einer von uns die Chance, ein neues, hoffentlich besseres Leben führen zu können? Wir haben alle schon einiges durchgemacht, obwohl einige von uns noch jung sind.
Wir standen alle erwartungsvoll vor den Gittern unserer Zwinger, aber keiner kam. Ach so, hab ich ja ganz vergessen! Ist ja gleich Mittagspause! Da durfte uns keiner besuchen.
Enttäuschung machte sich in mir breit. Kommen diese Menschen denn nach der Mittagszeit überhaupt wieder? War es ihnen wirklich ernst?
Traurig blickte ich meinen Zellengenossen an. Er ist ein Jagdhund und sieht richtig edel aus mit seinem grauen Fell und seinen bernsteinfarbenen Augen. Ich hörte, wie die Menschen sagten: „Er hat hinterlistige Augen.“ Dabei sind Angst und Misstrauen in ihnen zu sehen. Die Menschen haben seinen Blick nur falsch gedeutet. Ich komme gut mit ihm aus, solange er sich in gebührendem Abstand zu meinem Fressnapf aufhält. Ich habe schon mein ganzes Leben um mein Futter kämpfen müssen. Okay, das sind zwar erst eineinhalb Jahre, aber es ist sehr nervenaufreibend, auf der Straße zu leben und nie zu wissen, wann es das nächste Mal etwas zu fressen gibt.
Jetzt bin ich zwar hinter Gittern, bekomme aber regelmäßig einen gefüllten Napf serviert und habe einen trockenen Schlafplatz, von dem ich nicht verjagt werde. Das lasse ich mir auch nicht mehr nehmen. Kumpel hin oder her. Da hört die Freundschaft auf.
Das Klingeln riss mich aus meinen Gedanken heraus. Oh, waren da etwa die Menschen von heute Mittag?
Die Luft knisterte vor Energie.
Was ging da vor sich? Die Verbindungstür, die zu unseren Zwingern führte, wurde geöffnet. Unser Pfleger hatte zwei Frauen im Schlepptau.
Au ja fein, Frauen sind immer gut! Ihr müsst wissen, mit Männern habe ich bis jetzt nur schlechte Erfahrungen gemacht. Das reicht für mein ganzes Leben.
Ich sah mir also die zwei Frauen an. Es stellte sich heraus, dass es Mutter und Tochter waren. Ich hörte die Mutter sagen: „Wir wollen heute nur mal schauen.“ Die Tochter hielt dagegen und erwiderte:„Das klappt doch nie. Wir gehen heute nicht ohne Hund raus.“…
Martina Wissen: Die zarte Seele eines sanften Riesen
116 Seiten
ISBN 978-3-7412-9503-4
Erhältlich bei bei Books on Demand GmbH